TOM PEUCKERT
HEUTE ABEND: LACAN
Anmerkungen zum Monolog
Das Publikum ist gekommen, um Jacques Lacan zu hören und zu erleben. Der berühmt-berüchtigte französische
Psychoanalytiker hat eine Lecture über seine Ideen angekündigt. Erklärungen über ein Werk, das in ganz Europa
legendär geworden ist, weil es von den letzten Geheimnissen unserer seelischen Existenz spricht, dies aber auf bizarre,
äußerst schwer verständliche Weise.
Grund genug, an diesem Abend etwas Bedeutendes zu erwarten. Vielleicht persönlichkeitsstürzende Einsichten in das
eigene Seelenleben, vielleicht „nur“ einen handfesten Skandal. Ausgelöst von einem Mann, dem die Qualitäten einer
Sphinx nachgesagt werden, aber auch divenhafte Unberechenbarkeit, eine Neigung zu melodramatischer
Überspanntheit und erschreckenden Wutausbrüchen.
Lacans Monolog spielt mit Motiven des akademischen Vortrags wie mit den Ritualen einer Analysesitzung. Im
metaphorisch weit ausgreifenden Wortschwall, präzise interpunktiert von Momenten des Schweigens und
melodramatischen Seufzern, gibt Lacan Einblicke in die Betriebsgeheimnisse seines Denkens und seiner öffentlichen
Rolle. Die wichtigsten Elemente seiner Theorie tauchen auf, die Lehre von den Paradoxien unseres Begehrens, der
Unmöglichkeit des Genießens, der Geiselnahme alles Individuellen durch die Sprache. Auch die historische Situation, in
der das Werk entstand, bleibt nicht unerwähnt. Die surreale Tragik des 20. Jahrhunderts, das von großen Tyrannen und
Menschheitsverbrechern so entscheidend geprägt worden ist.
Lacan überspannt den Bogen von Anfang an. Seine Rede ist barockes Verströmen an der Grenze zur Hysterie, der
feurige Gedankenfluss kontrastiert durch die Lust am Ordinären und Clownesken, am wohlinszenierten Verschwinden
hinter Wortspiel und Nonsens. Mit der Raffinesse des großen Verführers umgarnt er sein Publikum und stößt es im
nächsten Augenblick kräftig vor den Kopf. Er setzt seine Zuhörer durch die Aufforderung zur Selbstoffenbarung unter
Druck, lässt aber keinen Zweifel daran, dass an diesem Abend nur einer reden darf.
Die Lecture mündet in zwei fantastische Anekdoten, die ihn und sein Denken für einen Moment scheinbar ganz
verständlich machen, bevor der Abend mit einem letzten schamanistischen Trommelwirbel endet.
Die Frage, ob hier einer der größten Denker des 20. Jahrhunderts gesprochen hat oder doch eher ein brillanter Clown,
bleibt unentscheidbar. Was Lacan selbst wohl keinerlei Probleme bereitet hätte.
Lacan mit dem großen Koffer eines Reisenden. Auf der Bühne Couch, Spiegel und Wandtafel.
LACAN:
Man begehrt mich zu sehen und zu hören, heute Abend. Wie schön! Wie großartig! Ich begehre es, wenn Sie begehren,
mich zu sehen und zu hören. Ich begehre Ihr Begehren. Ich verzehre mich danach. Begehren Sie ebenfalls mein
Begehren? Begehren Sie, von mir begehrt zu werden? Geht es nicht auch um die Tatsache, dass ich hier vor Ihnen
erscheine, dass ich mich vor Ihnen präsentiere, dass ich den Affen gebe, magisch angezogen vom Zucker Ihres Blicks,
geht es darum, dass ich Sie damit als ein für mich begehrenswertes Publikum anerkenne, anerkenne und ernst nehme,
dass ich Sie als Publikum begehre, was durch die Tatsache meines Erscheinens an diesem Ort hinreichend beglaubigt
ist? Geht es darum, dass ich mir hier, und damit Ihren geheimsten Wünschen Folge leistend, Hörner an den Hintern
klebe, um für Sie zu tanzen? Ist das das doppelte Geheimnis unserer gemeinsamen Anwesenheit? Vielleicht begehren
Sie darüber hinaus eine ganz persönliche, gewissermaßen private Begehrlichkeit meinerseits? Indem Sie sich da unten
besonders engagiert in die Pose des Aufmerksamen und vor allem des Kundigen werfen, indem Sie Ihr Gesicht mit der
Aura des kundigen Genießers zu vergolden trachten, damit mein Begehren sich gerade auf Sie, auf Sie persönlich
heftet: Ja, was ist denn das für ein toller Hecht, der Herr da unten in der dritten Reihe, wie kundig versteht der, meine
Anwesenheit zu genießen, das ist ja einzigartig, so was gibt es doch kein zweites Mal, ich bin ab sofort nur noch für den
anwesend, ich begehre ab sofort nur noch sein Begehren, ich genieße nur noch seinen Genuss.
(schweigt)
Ich sehe den Stolz des Genießens auf Ihren Gesichtern. Genuss ist etwas, das Ihnen mühelos gelingt. Sie sind Besitzer
einer tadellosen Genussfähigkeit. Je mehr Genuss von Ihnen verlangt wird, um so mehr genießen Sie. Da genügen Sie
allerhöchsten Ansprüchen. Vor allem Ihren eigenen. Da sind Sie d'accord mit allem, was von Ihnen verlangt wird. Sie
genießen, was das Zeug hält und wie es von Ihnen verlangt wird.
(seufzt)
Ich werde Ihnen ein paar Worte vortragen, heute Abend, eine Kleinigkeit, falls mein Atem ausreicht, ich sterbe zuvor an
Erschöpfung, ich arbeite zu viel.
(schweigt)
Was habe ich gemacht? Was habe ich eigentlich gemacht, in all den Jahren?
(schweigt)
Ich habe mir Gedanken gemacht über Sie. Die Sprache des Herzens, darum ging es mir, eine Abfolge kleinster
Bedeutungen, wild, aber regelmäßig, berauschend, aber aufs Schönste gegliedert. Der winzige Unterschied zwischen
Leben und Tod als Quelle logischer Fantasien.
(schweigt)
Ich hatte das Wort, ich habe das Wort geführt, nichts als das Wort, aber immerhin, ich habe das Wort an die Quelle
geführt, zum Brunnen, ich habe das Wort angefeuchtet, ich habe es nass gemacht, an der Quelle, ich habe das Wort
feucht und schlüpfrig gemacht.
(lächelt)
Meine bescheidene Antwort auf die Frage „Warum tut uns alles weh?“, Sie werden mir erlauben, Ihnen heute Abend
einige Kostproben vorzutragen, ich meine, sie können sich derartigen Dingen mit dem Schwung eines Holzfällers
zuwenden, kurzbehost wie ein Preisboxer, sie können, was meine Kollegen stets für das Angemessene hielten, an den
Baum der Erkenntnis pissen, in der Hoffnung, er dankt ihnen dieses Trankopfer mit einem besonders üppigen Beitrag für
ihr Fruchtkörbchen, kurz, sie können auf die strapaziöseste Weise aus dem Dudelsack musizieren, sie können an den
Nachttopf schlagen und sagen, das dröhnt doch wie eine Kirchenglocke, aber die Tatsache Ihrer Anwesenheit beweist
mir, dass Sie etwas anderes wollen, Sie wollen den Geist nicht als Hostie aus der Maschinenfabrik, Sie wollen ihn nicht
als Schraube im synaptischen Spalt, man soll Ihnen keine Schraube in den synaptischen Spalt hineinschrauben, Ihr
Spalt soll offen bleiben, weit offen, in Ihrem Spalt soll der Geist wohnen, Sie wollen den Geist nicht als Schraube in
Ihrem Spalt, Sie wollen ihn als Sexpartner, als Fickobjekt, mit dem Sie sich herumwälzen können, in brennender Lust,
Sie wollen den Geist als prachtvoll bestückten Lustknaben, als lebhaft lockendes Loch.
(seufzt)
Was habe ich gemacht, in all den Jahren?